Free Spirits need discipline
Keine Frage – Kant lebte unter völlig anderen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen.
Was wir bedenken dürfen ist, dass er als Denker der Aufklärung an einer der bedeutendsten Einschnitte der Geschichte beteiligt war – der Französischen Revolution. Kant hatte eine komplexe Haltung dazu. Anfangs war er enthusiastisch für die Ideale der Revolution, insbesondere für die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Er sah die Revolution als einen Weg zur Emanzipation der Menschen und zur Errichtung einer gerechteren Gesellschaft. Jedoch änderte sich seine Meinung, als die Revolution in Gewalt und Terror umschlug. Kant verurteilte die Gewalttätigkeiten und den Verlust von Menschenleben, die mit dem radikalen Flügel der Revolution einhergingen. Trotz seiner Kritik an den Auswüchsen hielt er an seinem Engagement für die Ideale der Aufklärung fest, insbesondere für die Ideen der moralischen Autonomie und der Rechtsstaatlichkeit.
Kant war wirklich ein freier Geist. Eine Grundlage war dafür vielleicht sein penibel geregeltes Leben. Der Dichter Heinrich Heine machte sich über diesen „Langweiler“ lustig. Kant lebe ein „mechanisches, geordnetes“ Leben. Dieser außergewöhnlich disziplinierte Tagesablauf ermöglichte es ihm, erfolgreiche philosophische Werke zu schreiben und gleichzeitig eine Lehrtätigkeit als Professor unter anderem für Logik und Metaphysik in Königsberg auszuüben. Spannend ist für mich die Parallele zu meiner amerikanischen Lehrerin Gabrielle Roth. Im Januar 2010 fragte sie die Teilnehmer:innen eines Workshops: „Do you have the discipline to be a free spirit?“ Disziplin ist für sie eine dynamische Energie, die unerlässlich für die eigene Entwicklung ist. Disziplin ist wie ein Sprungbrett, das uns zu den wesentlichen Dingen führe. Je mehr Disziplin wir praktizieren, desto mehr Verantwortung können wir übernehmen. Beide Qualitäten arbeiten zusammen, setzen einen Fokus und sind damit eine Grundlage für einen freien Geist. Heine hätte nicht schlecht über Gabrielle Roth gestaunt.
Disziplin hat heute oft noch einen muffigen Geschmack. Es lohnt sich jedoch darüber nachzudenken, welche positive Wirkung Disziplin im Berufsleben haben könnte – allein bei der immer wieder kritisierten Besprechungskultur! In fast allen Organisationen wird über Meetings gemeckert – gleichermaßen gibt es nicht viele Unternehmen, die Agenden verschicken, Meetings vor- und nachbereiten. Das braucht Disziplin – nur, dass dieser Kraftakt nicht immer gemeistert wird. Wie viele To Do’s und Verabredungen versanden in der Wüste der Unverbindlichkeit und des Vergessens? Auch hier wären Disziplin und Verantwortlichkeit die geeigneten Gegenmittel.
Es ist auch ein weitverbreiteter Irrtum, dass ein fremdgesteuertes, getaktetes Leben ein diszipliniertes ist. Es ist gefüllt – auch mit viel Überflüssigem und Mist. Disziplin ist in der Lage, Deine eigenen Rhythmen, Zeiten und Rituale für bestimmte Tätigkeiten zu definieren, die sinnvoll sind und Dir guttun. Frage Dich einmal, ob Du Routinen eigenverantwortlich ausübst – oder ob Du „ausgeübt“ wirst – von wem und was auch immer. Solche Regelmäßigkeiten geben Dir dann auch ganz bewusst Räume des eigenen Nachsinnens und Denkens.
- Überprüfe Deine persönliche Lebensdisziplin. Wann und wie erlebst Du sie? Beim regelmäßigen Sport, Spazierengehen, Essen …
- Wie sieht es mit der Selbstbeherrschung in Deinem Berufsleben aus? Gibt es eine Haltung des Zuhörens? Des Ausredenlassens? Kant würde wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er die Diskussionskultur in vielen Unternehmen erleben würde. Statt eines Diskurses würde er parallele Monologe beobachten, die selten auf Aspekte des Vorredners eingehen. Ich bin mir sicher, dass er den mangelhaften Erkenntnisgewinn dieser Gespräche nicht gutheißen würde.
- Für Kant war der freie Geist sein Lebenselixier. Wie frei empfindest Du den Geist in Deinem Team? Was und wie denkt Ihr, tauscht Ihr Eure Ideen aus? Wie inspirierend seid Ihr für Euch und andere?