
Die "Kopernikanische Wende"
In seinem bedeutendsten Werk, der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) führte Kant die sogenannte „kopernikanische Wende“ herbei.
Seine Gedanken waren zu der Zeit so radikal neu, vergleichbar mit dem Umbruch zu einem heliozentrischen Weltbild durch Kopernikus. Kant postulierte, dass sich unser Wissen nicht nach der Außenwelt richtet, sondern nach dem Subjekt. Wir nehmen die Welt also immer gefärbt durch unsere Brille, die von unseren Fähigkeiten, Prägungen bestimmt wird, wahr. Wahrgenommene Wirklichkeit ist wirklich – aber eben von uns gestaltet. Das ist für mich ein Knaller: Kant war ein früher – vielleicht der erste – Systemiker. Die Übereinstimmungen sind verblüffend, zumindest theoretisch. Denn heute hat fast jede Manager:in eine systemische Ausbildung und kennt sich bei den Termini aus – nur in der konsequenten Umsetzung von der Theorie in die Praxis – da hapert es manchmal. Ein paar Beispiele:
Die Rolle des Beobachters:in
Sowohl Kants kopernikanische Wende als auch das systemische Denken betonen die Rolle des Beobachters:in. Im systemischen Denken wird anerkannt, dass die Art und Weise, wie wir Systeme wahrnehmen und beschreiben, von unseren eigenen Wahrnehmungsfiltern, Erfahrungen und dem Kontext beeinflusst werden. Ähnlich argumentiert Kant, dass unsere Erkenntnis durch die Strukturen unseres Verstandes geformt wird. Viel zu selten findet aber genau dieser Diskurs – insbesondere bei Entscheidungen – statt. Sowohl Kant als auch das systemische Denken erkennen die Komplexität der Welt und die Grenzen unserer Erkenntnis an. Kant betonte, dass wir niemals das “Ding an sich” erkennen können, also die Welt unabhängig von unserer Wahrnehmung. Das systemische Denken betont ebenfalls, dass vollständige Objektivität schwierig, wenn nicht unmöglich ist, da unsere Beobachtungen und Theorien immer durch den Kontext und unsere Perspektive als Beobachter:in beeinflusst sind.
Daraus ergeben sich interessante Fragen:
- Aus welcher Brille beurteilen die Beteiligten eine Sache?
- Welche Annahmen und Prägungen beeinflussen sie?
Für diese Reflexion wird sich im Arbeitsalltag häufig zu wenig bis gar keine Zeit genommen.
Interaktion zwischen Teilen und Ganzem
Das systemische Denken betont die Bedeutung der Beziehungen und Interaktionen zwischen den Teilen eines Systems sowie zwischen dem System und seiner Umwelt. Kant führte mit seiner Philosophie das Verständnis ein, dass die Art und Weise, wie Dinge in Beziehung zueinanderstehen und in unserem Verstand organisiert sind, entscheidend dafür ist, wie wir die Welt als Ganzes begreifen. Dieses Verständnis der interdependenten Strukturierung von Erkenntnis spiegelt sich in der systemischen Auffassung wider, dass Elemente innerhalb eines Systems nicht isoliert, sondern in einem komplexen Netzwerk von Beziehungen betrachtet werden müssen. Bei vielen Herausforderungen springen Beteiligte gleich zur Lösung, statt sich zuerst die Beziehungen im System anzuschauen. Dazu ein Blick in die Praxis: Als ich in einem Konfliktworkshop eine systemische Organisationsanalyse anbot, mäkelte das Management und meinte, dass diese Perspektive nicht effizient sei. Stimmt, aber effektiv – denn die Funktionalität von Beziehungen macht ein System aus. Und das Erkennen dieser Bezüge braucht Reflexion und Zeit.
Insgesamt liegt die Gemeinsamkeit von Kants kopernikanischer Wende und dem systemischen Denken in der Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Welt tief von den Strukturen beeinflusst sind, durch die wir denken und wahrnehmen. Beide Ansätze fordern uns auf, unsere Strukturen, Prägungen, Konstruktionen kritisch wahrzunehmen, zu checken, zu hinterfragen und die Grenzen unserer Erkenntnis zu akzeptieren. Diese Bescheidenheit und Demut machten Kant zu einem großartigen Denker. Und der Mangel dieser Tugenden führt häufig zu gnadenloser Selbstüberschätzung bei gleichermaßen unbefriedigenden Ergebnissen – ein Befund, den ich unter anderem immer wieder in Startup-Systemen antreffe.
Frage Dich:
- Wie verbreitet ist in Deinem Umfeld die systemische Sichtweise? Denkt und handelt Ihr linear und mechanisch – in Abteilungen, Silos – oder pflegt Ihr Beziehungen und Netzwerke, hierarchie- und bereichsübergreifend?
- Wie oft geht es bei Dir und Deinem Umfeld um das Rechthaben, um die einzige Wahrheit? Oder akzeptiert Ihr, dass jede® „in ihrer/seiner Welt erst einmal richtig ist“ und Ihr deshalb einen Austausch der Perspektiven pflegt?
- Und zum Schluss: Wie oft nehmen Du und Dein Team, die Position des Beobachters:in ein? Tauscht Ihr Euch mit Abstand über Eure Wahrnehmungen aus, bevor Ihr gleich zur Lösung schreitet?